Speech
by His Highness the Aga Khan
REDE SEINER HOHEIT,
PRINZ AGA KHAN, VOR DER EVANGELISCHEN AKADEMIE TUTZING
ANLÄSSLICH DER VERLEIHUNG DES „TOLERANZPREISES“
Bismillah-ir-Rahman-ir-Rahim
Herr
Minister
Dr.
Greiner
Herr Landesbischof
Sehr verehrte Gäste
Meine Damen und Herren
Minister
Steinmeier hat sehr noble Worte gefunden, für die
ich ihm aufrichtig danken möchte. In diesen
Zeiten des Mißverständnisses und gegenseitigen
Mißtrauens kann ich der realistischen Einschätzung,
mit der er als Außenminister die internationalen
Beziehungen betrachtet, nur Beifall zollen. Ich weiß,
daß er ein konstruktives Verhältnis zwischen
dem Westen und der muslimischen Welt als einen entscheidenden
Faktor für globalen Frieden und Stabilität betrachtet,
und ich danke ihm für den Beitrag, den er zu diesem
Ziel leistet.
Zutiefst
dankbar bin ich auch für Ihre freundliche Einladung
und Ihren großzügigen Preis. Diese Auszeichnung
hat für mich insofern eine besondere Bedeutung, als
ich dem Sinn und Zweck dieses Preises – die Förderung
des Bewußtseins und der Achtung zwischen Völkern
und Kulturen durch eine Diskussion politischer, kultureller
und religiöser Themen – selber einen sehr hohen
Stellenwert beimesse. Mit eben diesen Fragen will ich
mich heute denn auch beschäftigen.
Lassen
Sie mich in diesem Zusammenhang auf meine persönliche
Erfahrung eingehen, als jemand, der im Westen ausgebildet
wurde, aber seit knapp 50 Jahren vor allem in der Dritten
Welt tätig ist. Mein besonderes Interesse in dieser
Zeit galt den Ländern Süd- und Zentralasiens,
Afrikas und des Nahen Ostens, in denen die Gemeinschaft
der Ismaeliten hauptsächlich lebt.
Seit
ich Imam der Shia Imami Ismail-Muslime wurde, habe ich
meine Welt – oder sollte ich sagen: die ganze Welt?
– zwischen Verheißung und Enttäuschung
hin und her schwanken sehen. In vielen Fällen sind
die Enttäuschungen dem Fehlen einer Kultur der Toleranz
geschuldet.
Zu
meinen Erfahrungen gehört natürlich auch der
religiöse Glaube, in dem ich aufgewachsen bin. Ich
wurde in eine muslimische Familie hinein geboren, als
Muslim erzogen und habe die Geschichte des Glaubens und
seiner Zivilisationen jahrelang studiert. Mein Bekenntnis
zu den Prinzipien der Toleranz erwächst auch aus
dieser spirituellen Überzeugung.
Eines
der zentralen Elemente des islamischen Glaubens ist die
Untrennbarkeit zwischen Glauben und Welt. Beides ist so
eng miteinander verwoben, daß eine Trennung gar
nicht vorstellbar ist. Zusammen bilden sie einen „Way
of Life“. Deshalb besteht die Rolle und Verantwortung
eines Imam darin, den Glauben gegenüber der Gemeinschaft
auszulegen und gleichzeitig alles zu tun, was in seiner
Kraft steht, um die Qualität und Sicherheit ihrer
täglichen Lebensbedingungen zu verbessern.
Es
fasziniert mich – und frustriert mich auch ein wenig
–, wenn Vertreter der westlichen Welt, vor allem
die westlichen Medien, daran gehen, die Arbeit unseres
Aga Khan Development Network im Bereich von Erziehung,
Gesundheit, Wirtschaft, Medien und beim Aufbau gesellschaftlicher
Infrastrukturen zu beschreiben.
Oft
wird unsere Tätigkeit als Philanthropie oder als
Unternehmertum bezeichnet, worin sich eine gewisse historische
Tendenz des Westens widerspiegelt, das Weltliche vom Religiösen
zu trennen. Was man hier nicht begreift, ist die Tatsache,
daß diese Arbeit für uns Teil unserer institutionellen
Verantwortung ist – sie ergibt sich aus dem Auftrag
des Imamats, die Qualität des weltlichen Lebens für
die betroffenen Gemeinschaften zu verbessern.
Natürlich
wurzelt unser spirituelles Verständnis – ebenso
wie das Ihrer Akademie – in alten Lehren. Im Islam
gibt es zwei Prüfsteine, die ich seit langem hochhalte
und anzuwenden versuche. Der erste bekräftigt die
Einheit des Menschengeschlechts, wie sie im heiligen Koran
zum Ausdruck kommt, wenn Gott durch den heiligen Propheten
Mohammed – Friede sei mit ihm – folgende Worte
spricht:
„O
ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus
einem einzigen Wesen erschuf, aus ihm seine Gattin erschuf
und aus ihnen beiden viele Männer und Frauen entstehen
und sich ausbreiten ließ.“ (4:1)
Dieser
bemerkenswerte Koranvers spricht sowohl von der Unterschiedlichkeit,
die der Menschheit innewohnt – die „Vielzahl“
einerseits –, als auch von der Einheit des Menschengeschlechts
– das „einzige von Gott erschaffene Wesen“
– ein spirituelles Vermächtnis, das die Menschheit
von allen anderen Lebensformen unterscheidet.
Die
zweite Stelle, die ich heute zitieren möchte, stammt
vom ersten erblichen Imam der Schia, Hazrat Ali. Wie Sie
wissen, spaltete sich die Schia nach dem Tod des Propheten
Mohammed von den Sunniten ab. Hazrat Ali, der Vetter und
Schwiegersohn des Propheten, wurde nach Auffassung der
Schia von diesem zur legitimen Autorität für
die Auslegung des Glaubens ernannt. Für die Schia
auf der ganzen Welt gilt er heute als der erste Imam.
Ich
zitiere die Worte Hazrat Alis, damit Sie verstehen, in
welchem Geist ich das Mandat auszufüllen versuchte,
das mir als 49. ismaelitischer Imam nach dem Tod meines
Großvaters übertragen wurde. Im Nahjul Balagha
sagt er Folgendes:
„Kein
Glaube ist wie Bescheidenheit und Geduld, keine Errungenschaft
ist wie Demut, keine Ehre ist wie Wissen, keine Macht
ist wie Nachsicht, und keine Hilfe ist zuverlässiger
als Beratung.“
Durch
die Achtung, die Hazrat Ali dem Wissen entgegenbringt,
bekräftigt er die Vereinbarkeit von Glauben und Welt.
Und sein Respekt vor der Beratung bedeutet meiner Ansicht
nach ein Bekenntnis zu toleranten, aufrichtig demokratischen
Prozessen.
An
einer anderen Stelle ruft Hazrat Ali die Regenten auf:
„Erfüllt euer Herz mit Gnade für die Untertanen
[...] Denn sie sind zweierlei: entweder eure Glaubensbrüder
oder euresgleichen vor der Schöpfung.“ Toleranz
erwächst also aus unserer Gemeinsamkeit als Menschengeschlecht.
Diese
islamischen Ideale spielten natürlich auch in anderen
großen Religionen eine wichtige Rolle. Ungeachtet
der langen Geschichte religiöser Konflikte gibt es
ja auch eine „Gegengeschichte“, in der Toleranz
als zentrale Tugend im Mittelpunkt der Religion steht
– in der es um die Aufnahme des Fremden und die
Liebe zum Nächsten geht.
„Wer
ist denn mein Nächster?“, lautet die Frage
in einer der ganz entscheidenden Erzählungen des
Christentums. Jesus antwortet mit der Geschichte des barmherzigen
Samariters – es ist ein Fremder, Repräsentant
des Anderen, der über ethnische und kulturelle Grenzen
hinweg Mitgefühl zeigt und sich des Unbekannten,
der hilflos am Straßenrand liegt, erbarmt.
Ich
weiß, daß Sie angesichts Ihrer eigenen spirituellen
Fundamente an einer solchen Diskussion nichts Ungewöhnliches
finden werden. Doch es verblüfft mich, wie viele
moderne Denker noch immer dazu neigen, Toleranz mit Weltlichkeit
in Verbindung zu bringen – und Religion mit Intoleranz.
In ihren Augen – und ich fürchte, oft auch
in den Augen der Öffentlichkeit – ist Religion
ein Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.
Natürlich
gibt es Gründe, wieso dieser Eindruck besteht. Die
ganze Geschichte ist erfüllt von dunklen Kapiteln,
in denen religiöse Konflikte schreckliche Konsequenzen
nach sich zogen. Bisweilen resultierte das Problem –
zumindest partiell – aus einem aggressiven Missionseifer,
der Religion nicht so sehr als ein gemeinsames Anliegen
betrachtete, sondern sie vielmehr oktroyierte. Auch in
unseren Tagen lassen sich viele angeblich religiöse
Stimmen vernehmen, die aggressiv auf einem einzigen Glauben
bestehen und andere Glaubensrichtungen ablehnen oder verurteilen.
Heutzutage
wird immer wieder von einem unvermeidlichen „Kampf
der Kulturen“ in unserer Welt gesprochen; ich fürchte
allerdings, was diese Leute oft meinen, ist ein unvermeidlicher
„Kampf der Religionen“. Aber ich würde
sowieso eine ganz andere Terminologie verwenden. Im Verhältnis
zwischen der muslimischen Welt und dem Westen besteht
das Grundproblem, so wie ich es sehe, in einem „Kampf
der Ignoranz“. Und was ich – als ersten entscheidenden
Schritt – dagegen empfehlen würde, wären
intensive erzieherische Maßnahmen.
Anstatt
uns gegenseitig zu beschimpfen, sollten wir einander zuhören
– und voneinander lernen. Unsere ersten Lektionen
könnten sich dabei auf die wirkungsvollen, aber oft
vernachlässigten Kapitel in der Geschichte konzentrieren,
als die islamische und europäische Kultur kooperativ
– konstruktiv und kreativ – zusammenwirkten
und dazu beitrugen, einige der grandiosesten Errungenschaften
menschlicher Zivilisation hervorzubringen.
Wir
müssen auch die ungeheure Vielfalt begreifen, die
zwischen individuellen Glaubensrichtungen und Kulturen
besteht, inklusive der Vielfalt und des Pluralismus, die
heute innerhalb der islamischen Welt wirksam sind. Und
wir müssen erkennen, daß ein solcher Pluralismus
förderlich und bereichernd sein kann, daß er
aber eben auch destruktive und tödliche Wirkungen
entfalten kann – so wie in der Christenheit vor
einem halben Jahrtausend und so wie in einigen Teilen
der islamischen Welt zu Beginn dieses neuen Jahrtausends.
Mit
einem Wort, Intoleranz kann aus einer bestimmten Art vorgeblich
religiöser Einstellung resultieren, aber echte Toleranz
kann auch ein zutiefst religiöses Bekenntnis sein.
Zu
den spirituellen Wurzeln der Toleranz gehören nach
meiner Auffassung der Respekt vor dem Bewußtsein
des Einzelnen – das als Gottesgabe zu begreifen
ist – wie auch eine Haltung religiöser Demut
vor dem Göttlichen. Wenn wir unsere menschlichen
Grenzen akzeptieren, dann können wir auch den Anderen
als einen Wahrheitssuchenden respektieren – und
einen Berührungspunkt in unserer gemeinsamen Suche
finden.
Lassen
Sie mich allerdings auch noch einmal betonen, daß
Spiritualität kein Weg sein sollte, vor der Welt
zu flüchten, sondern vielmehr ein Weg, sich aktiver
für sie zu engagieren.
Es
gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie wir daran
arbeiten können, in einer turbulenten Zeit eine Kultur
der Toleranz zu entwickeln. Viele von ihnen spiegeln sich
in der Arbeit unseres Aga Khan Development Network wider.
Ein Beispiel wäre etwa das neue Global Centre for
Pluralism, das wir kürzlich in Ottawa eröffneten
– in Partnerschaft mit der kanadischen Regierung.
Für das Zentrum ist die Erfahrung, die die Gemeinschaft
der Ismaeliten als Minderheit machen konnte, eine hilfreiche
Quelle bei der Suche nach einem konstruktiven Pluralismus
– zusammen mit dem pluralistischen Modell, das Kanada
selbst bietet.
Die
Probleme der Toleranz sind vielfältig – sowohl
in den Industriestaaten als auch in den Entwicklungsländern.
Die revolutionäre Auswirkung der Globalisierung bedeutet,
daß viele, die sich vorher nie begegnet waren, jetzt
ständig miteinander zu tun haben – sei es durch
die modernen Kommunikationsmedien, sei es durch direkten
Kontakt. Die Migration unter den Bevölkerungen hat
auf der gesamten Welt ein nie dagewesenes Ausmaß
angenommen; Menschen, die früher einmal durch ganze
Kontinente getrennt waren, leben heute vis-à-vis
in derselben Straße.
Doch
Gesellschaften, die sich in ihrer Struktur pluralistischer
entwickelt haben, sind nicht unbedingt pluralistischer
in ihrer Geisteshaltung geworden. Was wir brauchen –
und zwar auf der ganzen Welt –, ist eine neue „kosmopolitische
Ethik“, die in einer starken Kultur der Toleranz
wurzelt.
Vor
einigen Jahren unterhielt ich mich einmal mit dem damaligen
Präsidenten der Weltbank Jim Wolfensohn darüber,
wie Glück in verschiedenen Gesellschaften wahrgenommen
wird – und vor allem unter den Ärmsten der
Armen. Wir befanden, daß es nötig sei, „auf
die Stimmen der Armen zu hören“ – und
die Weltbank gab eine umfangreiche Studie über dieses
Thema in Auftrag. Unter anderem kam sie zu dem Ergebnis,
daß das Gefühl der „Angst“ entscheidend
dazu beiträgt, diese Gesellschaften in ihrer Entwicklung
zu hemmen. Ein solche Angst konnte unterschiedlichste
Formen haben: Angst vor Diktatoren, Naturkatastrophen,
Krankheit, Korruption, Gewalt, Mangel und Verarmung. Und
solche Ängste wurden zwangsläufig zu einer Quelle
der Intoleranz.
Offenbar
gibt es einen menschlichen – von Angst genährten
– Impuls, „Identität“ als etwas
Negatives zu definieren. Die Frage „wer wir sind“
beantworten wir oft dadurch, daß wir festlegen,
gegen wen wir sind. Dieser Impuls zur Fragmentierung trennt
nicht nur Menschen voneinander, sondern zersplittert auch
Gemeinschaften in Untergruppen – und diese dann
in neue Untergruppen und so weiter. Letztlich führt
dies zur „Zerfaserung“ der Gesellschaft: Die
Gemeinschaften ähneln immer mehr einem abgetragenen
Kleidungsstück, dessen engmaschiges Gewebe sich in
einzelne Fäden auflöst.
Doch
die menschliche Neigung zur Uneinigkeit wird – dies
ist meine feste Überzeugung – von einem zutiefst
menschlichen Impuls begleitet, Trennendes zu überbrücken.
Und je gefestigter wir in unserer eigenen Identität
sind, desto wirksamer können wir anderen zu Hilfe
kommen.
So
wie unsere Animositäten aus Angst erwachsen, entsteht
zuversichtliche Großzügigkeit aus Hoffnung.
Wenn ich in einem halben Jahrhundert der Arbeit in den
Entwicklungsländern eine wichtige Erkenntnis gewonnen
habe, dann die, daß die Ersetzung der Angst durch
Hoffnung wahrscheinlich der antriebsstärkste Motor
für den Fortschritt ist.
Selbst
in den ärmsten und abgelegensten Gemeinschaften konnten
wir feststellen, daß sich erbitterte Konflikte,
die Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte andauerten,
beilegen lassen, wenn man den Menschen nur Gründe
gibt, gemeinsam für eine bessere Zukunft zusammenzuarbeiten
– mit anderen Worten, wenn man ihnen Anlaß
zur Hoffnung gibt. Und wenn die Hoffnung erst einmal Fuß
faßt, dann ist auch eine neue Ebene von Toleranz
möglich, obwohl sie vielleicht jahrelang unbekannt
war.
Toleranz,
die aus der Hoffnung erwächst, ist mehr als eine
negative Tugend – mehr als eine bequeme Art und
Weise, sektiererische Spannungen zu reduzieren oder gesellschaftliche
Stabilität zu fördern – mehr als eine
nachsichtige Haltung, wenn die Ansichten anderer mit unseren
eigenen kollidieren. Betrachtet man sie nicht als blassen
religiösen Kompromiß, sondern als heilige religiöse
Pflicht, dann kann Toleranz zu einer wirkungsvollen positiven
Kraft werden, zu einer Kraft, die uns allen die Möglichkeit
gibt, unseren Horizont zu erweitern – und unser
Leben zu bereichern.